Antisemitismus im Dark Social

[ Glossar ]

Unser Glossar erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Die Begriffserklärungen sind im Kontext unseres Projektes zu verstehen. Dementsprechend leisten wir damit keine allgemeingültigen Definitionen, sondern wollen damit allen einen Zugang zum Thema ermöglichen.
Hier und da werden wir außerdem auf Literatur verweisen, in der ihr euch ergänzend zu den jeweiligen Aspekten informieren könnt.


Antifeminismus


Im Gegensatz zur Misogynie; die definiert ist als „Hass, Abneigung oder Misstrauen in Frauen, was sich ausdrückt in verschiedenen Formen der physischen Einschüchterung und des Missbrauchs, sexueller Belästigung und Vergewaltigung, sexueller Vermeidung und Ächtung, etc.“, kann Antifeminismus definiert werden als Abneigung feministischer Bewegungen und dem Wunsch zu einem patriarchalen Gesellschaftssystem zurückzukehren. Geprägt wurde der Begriff im Deutschen Kaiserreich von der Frauenrechtlerin Hedwig Dohm in ihrem Buch Die Antifeministen. Eine systematische Abgrenzung von Antifeminismus, Misogynie, Frauenfeindlichkeit und Sexismus gibt es bislang nicht. Der Begriff Antifeminismus ist jedoch deutlicher in einem gesellschaftspolitischen Kontext angesiedelt, während letztere drei sich auf eine Diskriminierung von Frauen im Alltag beziehen.


Antisemitismus


Arbeitsdefinition der International Holocaust Remembrance Alliance

Die International Holocaust Remembrance Alliance definiert Antisemitismus als „eine bestimmte Wahrnehmung von Jüdinnen und Juden, die sich als Hass gegenüber Jüdinnen und Juden ausdrücken kann. Der Antisemitismus richtet sich in Wort oder Tat gegen jüdische oder nichtjüdische Einzelpersonen und/oder deren Eigentum sowie gegen jüdische Gemeindeinstitutionen oder religiöse Einrichtungen.“ Die Arbeitsdefinition der IHRA, mit der auch wir arbeiten, bietet eine Arbeitsgrundlage, um handlungsfähig gegen alle Erscheinungsformen des Antisemitismus zu bleiben. Sie liefert eine wertvolle Orientierung und ist nützliches Instrument bei der Einordnung von Fällen. Hier geht es zur vollständigen Arbeitsdefinition: Arbeitsdefinition von Antisemitismus | Drupal (holocaustremembrance.com)

Antisemitismus im Kontext von Verschwörungsmythen

Antisemitismus ist „das Gerücht über den Juden“ (Theodor W. Adorno, Minima Moralia). Er knüpft an unbewusste Triebregungen, Konflikte, Neigungen und Tendenzen, die er verstärkt und manipuliert, an, anstatt sie zum Bewusstsein zu erheben und aufzuklären. Als kognitives und emotionales System zielt der Antisemitismus auf einen weltanschaulichen Allerklärungsanspruch. Als Weltbild bietet er ein allumfassendes System von Ressentiments und (Verschwörungs-)Mythen, die in ihrer konkreten Ausformulierung wandelbar waren und sind. Sie richten sich immer gegen Jüdinnen:Juden, da der Antisemitismus auf Projektionen basiert. Dementsprechend hat das reale Verhalten von Jüdinnen:Juden keinen Einfluss auf das antisemitische Weltbild, da es sich aus den emotionalen Bedürfnissen der Antisemit:innen selbst schafft. Antisemitismus ist eine spezifische Art zu denken und zu fühlen. Er ist die Unfähigkeit und die Unwilligkeit abstrakt zu denken und konkret zu fühlen. Im Antisemitismus aber soll das Denken konkret und das Fühlen abstrakt sein. Die nicht ertragenen Widersprüche werden dabei auf das projiziert, was der:die Antisemit:in für jüdisch hält (vgl. Samuel Salzborn, Antisemitismus als negative Leitidee der Moderne. Sozialwissenschaftliche Theorien im Vergleich). Damit ist der Antisemitismus nicht einfach eine Form der Diskriminierung neben anderen, sondern eine grundlegende Haltung zur Welt. Über ihn wird versucht alles, was nicht erklärt und verstanden werden kann oder will, zu begreifen. Er bietet vor allem also einen emotionalen Mehrwert und einen Ausweg aus dem Gefühl der Ohnmacht.

Mehr dazu: Was ist moderner Antisemitismus? | bpb


Dark Social


Wir verstehen unter „Dark Social“ Plattformen und Seiten, die bisher relativ unverbunden waren und auf denen radikale Inhalte weitgehend unbeobachtet kommuniziert wurden. Inzwischen sind alternative Plattformen zu wichtigen Kommunikationsknoten radikaler Akteur:innen geworden. Alternativ deshalb, weil das Dark Social einen Ersatz zu den Großen des Marktes bietet, nachdem der Regulierungsdruck von Facebook, YouTube und Twitter gewachsen ist.

Die Plattformen des Dark Socials sind wesentlich kleiner als die klassischen sozialen Medien. Das heißt, dass die auf ihnen erzielte Reichweite in aller Regel nur ein Bruchteil des zuvor erreichten Publikums misst. Da sie kein fester Bestandteil des Alltags sind, müssen sie gezielt aufgesucht werden, wenn bestimmte Inhalte konsumiert werden sollen.

Damit wird das Angebot auf diesen Plattformen stark von randständigen bis radikalen Akteur:innen bestimmt, die gezwungen sind, auf ihnen zu publizieren. Während auf YouTube und Instagram schnell die Löschung droht, sobald radikale Inhalte verbreitet werden, und zumindest in Deutschland das NetzDG gilt, trifft das im Dark Social nicht zu. Es gibt keinen Grund zur Mäßigung, zum Chiffrieren des Gemeinten oder zum Verzicht auf politische Handlungsanweisungen und Aufrufe. Die Plattformen fallen aufgrund ihrer Größe (noch) nicht unter das NetzDG oder entziehen sich über Unerreichbarkeit dem juristischen Zugriff. Es gibt dementsprechend keine verlässliche Kontrollinstanz, die Inhalte konsequent moderieren oder sperren würde. Die Dichte offener Holocaustleugnung oder terroristischer Propaganda ist daher ungleich höher als im offenen Social Web. Gleichzeitig führt diese relative Homogenität User:innen zu dem Gefühl unbeobachtet zu sein.

Unter „Dark Social“ kann prinzipiell das Bedürfnis nach geschützter Kommunikation und Privatsphäre verstanden werden. Das ist soweit erstmal nicht problematisch oder negativ. Unser Begriff von „Dark Social“ soll keine abgeschlossene Definition darstellen, sondern ist im konkreten Bezug auf unser Projekt zu verstehen. Hierbei verwenden wir ihn für alternative Plattformen, in denen Menschen sich anonym und weitestgehend ohne Regulierungsdruck miteinander vernetzen können. Insofern interessiert uns vor allem, welche Möglichkeiten diese Räume rechtsradikalen Akteur:innen bieten.

Für weitere Infos verweisen wir gerne auf die Amadeu Antonio Stiftung: Dark Social – Amadeu Antonio Stiftung (amadeu-antonio-stiftung.de)

Deplatforming


Deplatforming bezeichnet eine Strategie zum dauerhaften Ausschluss einzelner Personen oder Gruppen von digitalen Plattformen. Dies geschieht in der Regel von wiederholter Missachtung festgelegter Regeln. Konkret geht der Ausschluss einher mit einer Löschung oder Sperrung der Konten, Profile oder Kanäle. Das Deplatforming soll dabei die öffentliche Sichtbarkeit verringern und einzelnen Akteur:innen oder Gruppen damit die Reichweite nehmen, aber auch die Möglichkeit von jenen Plattformen finanziell zu profitieren. In der Regel wird das Deplatforming gegen Hassrede eingesetzt.


George Soros


George Soros fungiert als Hauptfeindbild der international agierenden Rechten. Als Gründer der Open Society Foundation und seiner Arbeit generell über NGOs wird er mit der Liberalisierung und Demokratisierung identifiziert. Als international tätiger Finanzinvestor, Förderer von liberaler Politik und Jude stellt er ein ideales Feindbild für das antisemitische Ressentiment dar. In ihm verdichten sich Motive des klassischen Antisemitismus, wie sie bereits im 19. Jahrhundert präsent waren: Agitation gegen den Liberalismus, den Globalismus und gegen das Judentum, das mit der Moderne und dem internationalen Finanzkapital in eins gesetzt wird. George Soros dient als Figur personifizierter Politik, politischer Bestrebungen und Veränderungen, die von der internationalen Rechten abgelehnt werden. Wenn von George Soros gesprochen wird, ist er jedoch nicht als konkrete Einzelperson gemeint, sondern wiederum als Symbol für das Judentum insgesamt.


INCEL


INCEL ist die Abkürzung für „Involuntary Celibates“, also unfreiwillig im Zölibat Lebende. Der Begriff entstammt ursprünglich einem Onlineforum, auf dem sich Menschen haben untereinander austauschen können, die Schwierigkeiten dabei hatten eine*n Partner*in zu finden. Der „Involuntary Celibate“-Zustand wurde hier nicht als etwas die Identität vollständig Konstituierendes und Unabänderliches verstanden, sondern als etwas Temporäres, das überwunden werden kann. Die Seite war auf einen solidarischen Austausch und Selbstreflexion angelegt und verwies auf professionelle Hilfsangebote. Veronika Kracher argumentiert, dass „wenn sexuell frustrierte Männer über ihre sexuelle Frustration sprechen, ist Misogynie jedoch nie weit. Es ist Teil einer patriarchalen Sozialisation, vermittelt zu bekommen, man hätte ein irgendwie geartetes Recht auf weibliche Aufmerksamkeit. Und es ist wesentlich einfacher, dem Feindbild Frau die Schuld für die eigene Sexlosigkeit in die Schuhe zu schieben, anstatt hegemoniale Geschlechtervorstellungen oder die eigene Persönlichkeit zu hinterfragen.“ (Kracher, Veronika: Incels. Geschichte, Sprache und Ideologie eines Online-Kults. S. 28) User, denen die ursprünglichen Seiten zu stark moderiert waren, wechselten bald auf neue Foren, die in der Sprache aggressiver wurde und in der die Schuld an ihrer Sexlosigkeit ausgelagert wurde auf Frauen. Der Online-Kult entwickelte sich zu einer Gemeinschaft von Männern, die wenn „sie daran scheiterten eine Frau zu finden, die bereit war Sex mit ihnen zu haben, ihren Frust in einen Aufruf zur Gewalt übersetzten.“ (Die Rechte Mobilmachung, S. 34f.)


Kulturmarxismus / Cultural Marxism


Hinter dem Begriff des Kulturmarxismus wird ein konspirativer Versuch verstanden die amerikanische Kultur und Moral zu zerstören. So hätten die jüdischen Philosophen der Kritischen Theorie nach ihrer Flucht aus Deutschland in den 1930ern an der Columbia University eine Form des Marxismus entwickelt, die anstelle des ökonomischen Systems vielmehr die amerikanische Gesellschaft und Kultur angreifen würde. Es ist eine Verschwörung der nicht Eigenen, sondern Anderen, eine von außen kommende, die die eigene Identität und Kultur bedroht und gar auflösen möchte, um den großen Austausch vorzubereiten.

Historisch steht der Begriff in Tradition mit der nationalsozialistischen Propaganda. Seine Verachtung gegen die Moderne und die nicht-deutsche Kultur fasste Hitler unter dem Begriff des „Kulturbolschewismus“ zusammen. Der Historiker Joseph W. Bendersky beschreibt in seinem Buch A History Of Nazi Germany: 1919-1945, dass der Begriff als Chiffre und Vorbereitung für die Pogrome verstanden werden muss, die Auschwitz vorausgegangen sind. „Für Hitler war der Kulturbolschewismus eine Krankheit, die die Deutschen schwächen und zu den Juden würde beten lassen“, schreibt Bendersky. „Ein Kampf um die Moral war im Gange und das Ergebnis bestimmte das Überleben der Rasse.“ In Fascism: Fascism and Culture führt Matthew Feldman aus, wie der antisemitische Begriff Kulturbolschewismus, der als Synonym für einen vermeintlichen Einfluss jüdischer Kultur genutzt wurde, zum Zerfall der Weimarer Republik und des Westens generell führte.

Der Attentäter von Utøya, Anders Behring Breivik, nutzte den Begriff Kulturmarxismus in seinem Manifest 2038: A European Declaration of Independence nahezu synonym zum Begriff des Multikulturalismus.

Wird der Begriff auch polemisch gegen vermeintlich linke Politik verwendet, ist das antisemitische Narrativ ihm trotzdem stets inhärent.


Umvolkung / der große Austausch


Die Verschwörungserzählung des Großen Austauschs hat ihren Ursprung im Buch des französischen Rechtsextremen Renaud Camus Le grand replacement von 2001. Darin vertritt Camus die Ansicht, dass es in Frankreich durch die Einwanderung zu einem Identitäts- und Kulturverlust komme. Er behauptet, dass Frankreich in der Gefahr stünde „unter muslimische Herrschaft zu geraten“. Seither ist es ein politischer Kampfbegriff der neuen Rechten. Die Erzählung postuliert einen geheimen Plan die weiße Mehrheitsbevölkerung gegen muslimische, nicht-weiße, außereuropäische Einwanderer*innen auszutauschen. Infolge dessen käme es in absehbarer Zeit zum „Untergang Europas“ oder gar einem „Genozid“. Hinter diesem Plan stünden „die Globalisten“, „die Eliten“, „die Privatwirtschaft“, „die Multikulturalisten“ oder auch supranationale Organisationen wie die Europäische Union oder die Vereinten Nationen, was jeweils Chiffren sind, die eigentlich „die Juden“ meinen. Diese Verschwörungserzählung stellt ein ideales Beispiel für die Intersektionalität von Hassideologien dar. Im Hass auf die Einwanderung, welche die direkte, konkrete Bedrohung darzustellen meint, äußert sich der Rassismus. „Der Jude“ aber fungiert als Abstraktes im Hintergrund und stellt die ausführende Kraft dar. Er wird dargestellt als Quelle allen Übels oder wie Adorno und Horkheimer schreiben „als negatives Prinzip als solches“ (Adorno, Theodor W.; Horkheimer, Max: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. Leipzig 1989. S. 190).


Verschwörungsmythen / Conspiracy theories


Eine Verschwörungserzählung ist eine Annahme darüber, dass eine als mächtig wahrgenommene Gruppe von Menschen wichtige Ereignisse in der Welt beeinflussen und damit der Bevölkerung gezielt schaden, während sie diese über ihre Ziele im Dunklen lassen. Das englische Wort conspiracy theory stammt vom lateinischen Verb conspirare, das übereinstimmen oder zusammenwirken bedeutet. Eine Verschwörung ist also niemals das Werk eines Einzelnen, sondern immer das einer kleineren oder größeren Gruppe von Menschen.

Verschwörungserzählungen treten vor allem in Zeiten einer Krise auf. Wo Menschen das Gefühl haben, keine Kontrolle mehr zu haben, suchen sie Strategien mit der empfundenen Ohnmacht umzugehen. Dabei sind vor allem folgende Grundannahmen konstitutiv: 1. Nichts geschieht durch Zufall. 2. Nichts ist, wie es scheint. 3. Alles ist miteinander verbunden. Die Beantwortung dieser Grundannahmen schaffen den Verschwörungsgläubigen Sicherheit und das Gefühl ihre Kontrolle wieder zurück gewonnen zu haben. Konstitutiv ist ihr außerdem ein Dualismus von Gut und Böse.

In der Wissenschaft wird mittlerweile weitestgehend der Begriff der Verschwörungstheorie abgelehnt. Eine Theorie ist eine nachprüfbare Annahme über die Welt, die, wenn sie sich als falsch herausstellt, auch wieder verworfen werden kann. Eine Verschwörungserzählung aber zeichnet sich dadurch aus, dass sie sich eben dieser Nachprüfbarkeit entzieht. Sie bildet ein geschlossenes Weltbild.