I.

Im Oktober 2018 trafen sich Historiker*innen aus Norwegen, Russland, Serbien und Deutschland in Berlin-Karlshorst. Bei einem Colloquium im Deutsch-Russischen Museum sprachen sie über die NS-Zwangsarbeit in Europa und Norwegen im speziellen sowie über Norwegen unter deutscher Besatzung. Das Colloquium war gleichzeitig der öffentliche Beginn des Recherche-Theater-Projektes BLODVEGER. Aus dem persönlichen Kennenlernen und dem gemeinsamen Austausch entwickelte sich eine Zusammenarbeit, die ein halbes Jahr später zu einer Theaterinszenierung wird: die deutschen Historiker*innen zeigen sie in Berlin und Narvik und mit den jeweiligen Länderschwerpunkten auszugsweise in Skinnskatteberg, Belgrad und Archangelsk. Nach der Rückkehr werden die deutschen Historiker*innen von ihren Erlebnissen und Erfahrungen in Berlin berichten; abschießend wird die sechssprachige Webseite www.blodveger.info freigeschaltet.

Schwerpunkt der historischen Forschung und der szenischen Umsetzung ist die Zwangsarbeit im deutsch-besetzten Norwegen, sind die Zeitzeugnisse von sowjetischen und jugoslawischen Zwangsarbeitern; sie werden ergänzt durch Berichte aus der norwegischen Zivilbevölkerung sowie deutschen Feldpostbriefen und amtlichen Schreiben. Individuelle Schicksale werden hierbei ebenso sichtbar wie historische Zusammenhänge.

II.

In der Weisung Hitlers vom 1. März 1940 zum deutschen Überfall auf Dänemark und Norwegen werden strategische und ökonomische Gründe deutlich. Gleich zu Anfang werden die Sicherung „unserer Erzbasis in Schweden“ und die Erweiterung „für Kriegsmarine und Luftwaffe der Ausgangsstellung gegen England“ angeführt. Während der fünfjährigen Besatzung blieb Norwegen Operationsgebiet. Befestigungsanlagen und Transportwege wurden ausgebaut: der Atlantikwall sollte an der norwegischen Küste beginnen, das Land als Aufmarschgebiet für den nördlichen Angriff auf die Sowjetunion dienen. Am Tag der Kapitulation – in Norwegen wie für das restliche Europa am 8. Mai 1945 – waren rund 400.000 Soldaten in Norwegen stationiert; bei einer Bevölkerung von unter drei Millionen Menschen kam auf jeden siebten ein Soldat.

Norwegen sollte fester Bestandteil eines europäischen Wirtschaftsraums unter deutscher Hegemonie werden. Für die Rasse-Ideologen war Norwegen zugleich Teil eines Groß-Germaniens. De facto entwickelte sich die deutsche Herrschaft im sog. Reichskommissariat Norwegen zur imperialistischen Gewaltherrschaft.

Gleichzeitig waren deutsche Zivilverwaltung, Wehrmacht und die paramilitärische Arbeitsorganisation Todt fast alleinige Arbeitgeber, zu der sich Unternehmen, Arbeiter und andere Zivile verhalten mussten. Das Verhaltensspektrum reichte von politischer, administrativer und ökonomischer Kollaboration bis zum offenen Widerstand und manifestierte sich in kleinsten Handlungen.

Die Bautätigkeit – Befestigungsanlagen, Straßen, Eisenbahnen, Häfen, Flugplätze, Aluminiumwerke – war der beherrschende Faktor im Wirtschafts- und Alltagsleben. Allein im ersten Jahr der Besatzung wurden 1.600 Bauvorhaben angemeldet; bis Kriegsende verschlang die Wehrmacht dafür 95% des deutschen Kronenvermögens in Norwegen. Von 200.000 norwegischen Industriearbeitern waren 150.000 bei deutschen Bauvorhaben beschäftigt. Norwegen war das einzige besetzte Land in Europa aus dem keine Arbeiter nach Deutschland geschickt wurden. Im Gegenteil, diese Bauprogramme waren nur möglich durch den Einsatz von Zwangsarbeitern. Sowjetische Kriegsgefangene wurden ab August 1941 nach Norwegen deportiert; erst ein halbes Jahr später ins Deutsche Reich. Bis 1944 wurden es rund 100.000; rund 4.000 Zwangsarbeiter aus Jugoslawien, 1600 aus Polen und 10.000 Zivilarbeiter*innen kamen hinzu; sowie 2600 deutsche politische und kriminelle Häftlinge. – Die Zwangsarbeiter waren in 600 Lagern interniert, die von der SS, der norwegischen Sturmabteilung Hird, der Wehrmacht, der Organisation Todt, von Wächtern des deutschen Justizministeriums oder auch von privaten, auch norwegischen Firmen bewacht wurden.

III.

Geschichten von Zwangsarbeitern – über hunderttausend Menschen – haben wir gesammelt. Die einen kehrten als Helden in ihre Heimat zurück, die anderen als Landesverräter; die einen haben dokumentarische Romane geschrieben, die anderen noch nicht einmal ihrer Familie davon erzählt, was sie in Norwegen erlebt haben: nach der Gefangennahme und der Verschleppung ans Ende der Welt, bei schwerster Arbeit – mit teilweise intendierter Vernichtung – einer oft unwirtlichen Natur und der Willkür der Bewacher ausgesetzt. 16.500 Menschen von ihnen fanden auf verbrecherische Weise den Tod, auf fremder Erde, in einem Massengrab. Als in Norwegen 1951 die sowjetischen Gräberstätten untersucht wurden, konnten in 10.704 Gräbern nur 2.700 Tote identifiziert werden.

Wir sahen unsere Aufgabe zunächst darin, Zeitzeugnisse zu bündeln, sie in eine Form zu bringen, die sich zwar an ein Theaterpublikum wendet, aber kein Theaterstück ist. Ein solches könnte in einem zweiten Schritt entstehen. Gegenwärtig schauen Sie einer Gruppe von Historiker*innen bei der Recherche zu, ihrer Erzählung von oftmals herzzerreißenden Geschichten.

Christian Tietz