Eugenie Khatschatrian, Projektmanagerin bei EuroClio

Was ist das Besondere am Projekt „Who Were the Victims of the National Socialists?” – vor allem in Bezug auf das Lernen von der Vergangenheit?

Unser Projekt fordert Schüler und Schülerinnen mithilfe eines ortsbezogenen Toolkits auf, ein eigenes Geschichtsprojekt zu initiieren und so für sich selbst die titelgebende Frage nach den Opfern des NS zu beantworten. Das Einzigartige daran ist, dass die Jugendlichen für ihre Lernreise selbst verantwortlich sind. Sie können selbst entscheiden, wie und was sie über die Vergangenheit lernen. Die Lehrkraft ist lediglich eine Vermittlungsinstanz in diesem Prozess. Das Toolkit ermutigt Schüler:innen, darüber nachzudenken, was sie über dieses Thema wissen möchten und wie sie das herausfinden können. Das Toolkit gibt dafür einen kompetenzbasierten Rahmen, der es sowohl den Lernenden als auch den Lehrenden ermöglicht, die Entwicklung eines demokratischen Kernbewusstseins sowie von Fähigkeiten und Kompetenzen zu verfolgen und zu bewerten – auch insofern, als Schüler:innen dazu aufgefordert sind, soziale Ungerechtigkeit in der heutigen Gesellschaft zu reflektieren.

Angesichts schwindender und zeitgleich umkämpfter Räume für Zivilgesellschaften innerhalb Europas: Welche Funktion erfüllt heutzutage historische Bildung?

Wir sind fest davon überzeugt, dass unsere Identität, Gesellschaft sowie unser Weltbild durch historische Bildung maßgeblich geprägt werden. Wird historische Bildung gut umgesetzt, bildet diese einen äußerst wichtigen Grundpfeiler für nachhaltige Demokratien und Frieden. Im Rahmen der historischen Bildung geht es auch um die Entwicklung entscheidender Fertigkeiten und Kenntnisse, die für ein staatsbürgerliches Bewusstsein und eine demokratische Staatsbürgerschaft unerlässlich sind. Es sollen kritisches Denken gefördert und der Umgang mit Gefühlen erlernt werden. Darüber hinaus soll vermittelt werden, dass historische Ereignisse von jedem Menschen anders erlebt werden können, und es geht um die Fähigkeit, mit gegenseitigem Respekt, gegenseitigem Verständnis und Einfühlungsvermögen miteinander zu sprechen und zu diskutieren.

Woran erinnern sich junge Menschen in Europa hinsichtlich des in der Vergangenheit stattgefundenen NS-Unrechts? Ist die Situation im Osten, Westen, Norden und Süden dieselbe?

Auch wenn es ausführliche Aufzeichnungen von Überlebenden und Zeitzeugen:innen gibt und der Zweite Weltkrieg bzw. der Holocaust in den meisten europäischen Geschichtslehrplänen behandelt wird, scheint die Erinnerung an das NS-Unrecht für die heutige Generation von Schüler:innen und Jugendlichen immer weiter zu verblassen. Ziel dieses Projekts ist es nicht nur, ein historisches Verständnis und eine Sensibilisierung für die Vergangenheit zu schaffen und zu vertiefen, sondern auch Schüler:innen und Jugendlichen verständlich zu machen, warum es nach wie vor ungemein wichtig ist, sich mit diesem Thema auseinanderzusetzen, auch wenn sie sich selbst nicht mit Geschichten und Erinnerungen von damals identifizieren können. Wir möchten Jugendliche dazu ermutigen, aus der Vergangenheit zu lernen und dabei, gegenwärtige Strukturen und Mechanismen in unserer heutigen Gesellschaft, die Diskriminierung, soziale Ausgrenzung, Hassreden oder jede andere Art von sozialer Ungerechtigkeit begünstigen, kritisch zu hinterfragen, sich ihrer bewusst zu sein und sie zu erkennen. Gleichzeitig streben wir an, dass die Jugendlichen aktiv darüber nachdenken, wie sie diese Herausforderungen bewältigen können, damit soziale Ungerechtigkeit auch künftig verhindert werden kann.