Hubert Wolf ist Professor für Mittlere und Neuere Kirchengeschichte an der Universität Münster. Er ist Experte für den Vatikan und die römischen Archive und wurde für seine Arbeiten mehrfach ausgezeichnet. Mit seinem Team ediert er von der Stiftung EVZ und dem Auswärtigen Amt gefördert unter www.askingthepopeforhelp.de jüdische Bittschreiben.

Eine Sensation – so kann man das, was am Donnerstag im Vatikan passiert ist, getrost benennen. Eines der wichtigsten Archive der Weltkirche, das Archiv des päpstlichen Staatssekretariats, machte völlig unerwartet seinen vielleicht brisantesten Aktenbestand online zugänglich. Für jedermann.

Dabei handelt es sich nicht um irgendeine Serie von Dokumenten, sondern um eines der bittersten Zeugnisse der Shoah: Tausende Bittschreiben verfolgter Juden an den Vatikan.

Diese rund 40.000 Blatt aus dem Bestand Ebrei (italienisch für Juden) stehen für eines der umstrittensten Themen der neueren Kirchengeschichte überhaupt: das Verhalten Pius' XII. zum Holocaust. Den Papst, der öffentlich zur Shoah geschwiegen hat, erreichten von 1939 bis 1945 Tausende Bittschreiben jüdischer Menschen, erschütternde Zeugnisse aus ganz Europa – die von der letzten Hoffnung der Verfolgten erzählen, der "Heilige Vater" könne sie vor Deportation und Ermordung retten.

Und tatsächlich: In vielen dieser Fälle haben Pius XII. und die Kurie konkret versucht zu helfen. In anderen Fällen geschah offenbar nichts.

Warum werden die Akten nun allgemein zugänglich? Sie online zu stellen, das ist fast so, als ob die katholische Kirche von heute auf morgen die Weihe von Frauen zu Priestern zugelassen hätte.

Denn es gab eherne Grundsätze der vatikanischen Archivpolitik: Zugang zu den Quellen erhielten nur Historiker, die zumindest einen akademischen Abschluss haben. Die Entscheidung über die Belegung der Arbeitsplätze blieb dem Präfekten vorbehalten. Vatikanische Quellen konnten nur vor Ort im Lesesaal in Rom angeschaut werden. Abschreiben und Exzerpieren von Hand war seit der Öffnung des Vatikanischen Geheimarchivs für die Forschung 1881 für über ein Jahrhundert die einzige Möglichkeit. Einzelne Kopien für die private Nutzung bedurften der Genehmigung des Präfekten und waren teuer. Nicht einmal Inventare waren online zugänglich.

Während staatliche Archive längst Bestände digital zur Verfügung stellen, galt dies in Rom als Sakrileg. Als 2020 endlich die Bestände Pius' XII. zugänglich wurden, haben die Vertreter der vatikanischen Archive auf Nachfrage noch öffentlich erklärt, eine allen zugängliche digitale Open-Access-Lösung komme für den Vatikan nicht infrage. Jetzt das: Und die Kirche bewegt sich doch!

Der Verfasser dieses Artikels nutzt als Historiker die Archive des Vatikans, auch die sogenannten Geheimarchive, seit über 40 Jahren. Und mit seinem Team an der Universität Münster forscht er seit 2002 auch zur Rolle der Kirche in der Nazizeit.

Unser neuestes Forschungsprojekt heißt Asking the Pope for Help und will alle Bittschriften jüdischer Menschen an Pius XII. in den vatikanischen Archiven finden – um sie in einer kritischen Onlineedition einer breiten Öffentlichkeit vorzulegen.

Für uns ist die aktuelle Entscheidung aus Rom eine Überraschung – und eine immense Arbeitserleichterung. Neben vielen weiteren Akten in unterschiedlichen Archiven sind die Dokumente aus der Ebrei-Serie zentral, um die bislang verborgenen Schicksale dieser Juden ans Licht zu bringen.

Wir Forscher müssen die Bittschreiben nicht mehr mühsam vor Ort bestellen und händisch im Vatikan abschreiben, sondern können sie vom heimischen Schreibtisch aus einsehen. Das bringt uns enorm weiter. Denn so können wir der Öffentlichkeit, vor allem aber den Nachfahren der Verfolgten rascher Klarheit darüber verschaffen, was in jenen dunklen Jahren wirklich geschah.