Danielle Jerry, Projektleitung Antisemitismuskritische Bildungsarbeit auf TikTok, Bildungsstätte Anne Frank 

Warum braucht es antisemitismuskritische Bildung auf TikTok?

Obwohl immer wieder Artikel und Studien über diskriminierende und radikalisierende Inhalte auf TikTok veröffentlicht werden, wird die Plattform immer noch von vielen als unschuldige Spaß- und Tanz-App für Kinder und Jugendliche eingestuft. Dieser Trugschluss ist gefährlich. Denn auf der Plattform tummelten sich von Anfang an Gruppierungen und Individuen, die antisemitische Inhalte hochladen, teilen und somit salonfähig machen. Viele der oftmals jungen User:innen sehen diese Videos und können die dahinterliegenden antisemitischen Narrative nicht erkennen oder einordnen, entweder weil ihnen das Vorwissen fehlt oder, noch wichtiger, weil diese so verpackt sind, dass sie nicht auf den ersten, zweiten oder sogar dritten Blick erkennbar sind.

Oft sind diese als “Witze” verpackt, tauchen im Hintergrund versteckt auf, oder antisemitische Aussagen werden als Meinungsfreiheit deklariert. Zahlreiche TikTok-typische Attribute verstärken das zusätzlich: die Videos erscheinen ungefiltert im Stream, sie werden User:innen aufgrund von Popularität und Interaktion ausgespielt. Sounds, Filter oder Memes, die trenden, werden missbraucht, damit die Videos oben mitschwimmen. Die Kommentarspalten sind stark in der Zeichenzahl limitiert und unübersichtlich, was dazu führt, dass Gegenargumente schnell untergehen, Wortfilter können durch eine veränderte Schreibweise einfach ausgetrickst werden und vorhandene Meldemöglichkeiten greifen zu kurz oder können von Trollen missbraucht werden, um Betroffene und Gegenstimmen zu unterdrücken. Daher ist es essenziell, erstens ein Bewusstsein dafür zu entwickeln, was auf TikTok passiert, und zweitens und vor allem eine Gegenposition zu bilden. So können wir einen Beitrag dazu leisten, dass User:innen über antisemitische Narrative aufgeklärt sind und diese in Zukunft erkennen und sich aktiv dagegen positionieren können. Es wäre fatal, dem Hass das Feld zu überlassen und die Plattform unsicherer für Betroffene werden zu lassen.  
 

TikTok ist auch aus weiteren Gründen als Plattform nicht unumstritten – Stichworte sind Datenschutz und Jugendschutz – wie geht das Projekt damit um und adressiert es TikTok auch direkt?

Wir sind uns bewusst, dass TikTok als Plattform problematisch ist, sonst bräuchte es zum Beispiel keinen bildungspolitischen Akteur:innen, die sich dort positionieren und Aufklärungsarbeit leisten. Wichtig für uns ist: TikTok ist der Ort, wo sich unsere Zielgruppe aufhält, wo sie tagtäglich Inhalten ausgesetzt ist, die ungefiltert und ohne Einordnung auf sie einprasseln und wo sie antisemitische Narrative aufschnappt, nicht versteht und im schlimmsten Fall reproduziert. Für viele junge Menschen ist TikTok nicht einfache Unterhaltung, sondern sie ist eine Quelle der Information und Inspiration. Das darf bei all der Kritik an der Plattform nicht übersehen werden. Mit unserem Projekt hoffen wir auch TikTok selbst für das Thema Antisemitismus zu sensibilisieren, damit sie aktiver dagegen vorgehen. Für die Plattform steht Spaß im Vordergrund, aber die dunklen Seiten sind nun einmal vorhanden und dürfen nicht ignoriert werden. Von außen betrachtet scheint TikTok sich seiner Verantwortung bewusst zu sein. TikTok löscht Videos oder verhindert, dass sie hochgeladen werden. Hier scheint der Druck, der von der Politik kommt, auch zu wirken. Aber es braucht noch mehr, und wir glauben, dass sich der Status quo nur verbessern lässt, wenn bildungspolitische Akteur:innen immer wieder den Finger in die Wunde legen.

 

Content Creator:innen kennen viele Menschen aus der Werbung für Lifestyle oder Reisen. Was ist das Besondere und Neue bei der Zusammenarbeit mit Creator:innen in Bezug auf Bildungsinhalte?

Viele haben ein bestimmtes Bild von Creator:innen, die auf Plattformen wie Instagram und YouTube Inhalte teilen und aus der Präsentation des schönen Scheins eine Karriere gemacht haben. Diese Creator:innen kennen wir als Influencer:innen, und davon gibt es natürlich auch viele auf TikTok. Der Unterschied zu den Creator:innen, mit denen wir zusammenarbeiten, liegt in den Inhalten, also im Content der Videos. Es geht nicht darum, sich zu präsentieren, Produkte oder einen Lifestyle zu bewerben, sondern darum, zu politischen und historischen Themen fundierte Videos zu produzieren, die einen Gegenpol zu Fake News und Hassrede bilden. Das schafft zudem eine Plattform für betroffene und marginalisierte Gruppen. Die Creator:innen haben unterschiedlich große Follower:innenzahlen, erreichen die unterschiedlichsten Gruppen und können unsere Themen optimal aufbereiten, denn sie lassen eigene Erfahrungen einfließen: Sie kennen die Trends, die Formate und die Ansprache, die auf der Plattform funktionieren. Das Wichtigste: Sie sind authentisch. Und wenn wir die TikTok-User:innen erreichen wollen, müssen wir die TikTok-Sprache sprechen und die TikTok-Regeln befolgen. Unsere Creator:innen helfen uns dabei.