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Geschichte Verbotene Liebe in NS-Zeit

„Das war ein Tabu, das durfte niemand wissen“

In der NS-Zeit waren Liebesbeziehungen zwischen Deutschen und als „fremdvölkisch“ stigmatisierten Kriegsgefangenen oder Zwangsarbeitern streng verboten. Aber es gab sie. Kinder aus diesen Beziehungen wurden oft beschimpft und ausgegrenzt. Viele suchen ein Leben lang nach ihren Wurzeln.
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Ein Zwangsarbeiter aus der Sowjetunion bei Schweißarbeiten in einem NS-Rüstungsbetrieb (undatiertes Foto)
Quelle: pa/akg-images
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Die meiste Zeit seines Lebens hatte Gerd A. Meyer das Gefühl: Da fehlt ein Teil von mir, ich bin nicht ganz. Erst jetzt, nach Jahrzehnten intensiver Suche, hat sich daran etwas geändert, grundlegend. Das hat mit dem „A“ zu tun, das der 77-Jährige aus der Lüneburger Heide seit einiger Zeit in seinem Namen trägt. Die Abkürzung steht für „Anatoljewitsch“, Sohn des Anatolij. Und das „A“ ist es auch, das mitten hineinführt in eine Geschichte von Liebe, Angst und Tod.

Gerd A. Meyers Vater, Anatolij Michailowitsch Pokrowskij, wollte eigentlich studieren, als die deutsche Wehrmacht im Juni 1941 die Sowjetunion überfiel. Der damals 19-jährige Russe wurde zum Militär eingezogen und geriet schon kurz darauf in Kriegsgefangenschaft. Er kam in das NS-Lager im niedersächsischen Sandbostel und wurde von dort mit einem Arbeitskommando auf einen Bauernhof geschickt. Auf dem Hof verliebten sich Anatolij und die Tochter des Landwirtes – zu NS-Zeiten ein schweres Verbrechen.

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„Das war ein Tabu, das durfte niemand wissen, die Gefahr der Denunziation war einfach zu groß“, weiß Gerd A. Meyer heute. Denn der Umgang mit „Fremdvölkischen“, wie die Nazis Menschen wie Anatolij nannten, war streng verboten. Ein Brot oder Briefe zustecken, gar Küsse austauschen, das stand schon unter Strafe. Das Schlimmste an solchen Beziehungen waren aus Sicht der Nazis „GV-Verbrechen“ – „Geschlechtsverkehr-Verbrechen“ -, die oft mit dem Tod geahndet wurden. Besonders schwer wog der sogenannte „Kriegsehebruch“: wenn ein Wehrmachtssoldat an der Front betrogen wurde.

Besonders in polnischen und sowjetischen Kriegsgefangenen und Zwangsarbeitern sah die Rassenideologie des Hitler-Regimes „minderwertige“ Menschen, denen elementare Rechte verweigert wurden. Doch trotz rigider Strafmaßnahmen existierte der verbotene Umgang, genaue Zahlen gibt es nicht. „Die Kinder aus diesen Beziehungen wurden verheimlicht, solange es ging“, erzählt die Historikerin Verena Buser. Es habe verborgene Schwangerschaftsabbrüche gegeben, manchmal auch Kindstötungen.

Buser forscht an der Gedenkstätte in Sandbostel zu Kindern aus diesen verbotenen Beziehungen, über die bis heute nur wenig bekannt ist. „Trotzdem da!“ heißt das bundesweite Projekt, das im Dezember 2024 in eine Wanderausstellung münden soll. Es greift die Erfahrungen und Lebensgeschichten der Kinder auf, die das Team um Buser in Archiven und Interviews mit den Betroffenen recherchiert.

Zu ihnen gehört auch Katharina Sämann, die heute in Worpswede bei Bremen lebt. Die 78-Jährige ist die Tochter einer deutschen Frau und des sowjetischen Kriegsgefangenen Wassilij Koslow. Ihre Mutter Anna wurde denunziert, was oft geschah. „Ohne das Heer der freiwilligen Zuträger wäre die Gestapo nahezu blind gewesen“, heißt es in der Veröffentlichung „Verbotener Umgang mit ‚Fremdvölkischen‘“ aus der Schriftenreihe des Dokumentationszentrums NS-Zwangsarbeit. Für ihre Liebe kam Anna 15 Monate in das Frauenzuchthaus Lübeck, eine Entschädigung hat sie für diese Haftzeit nie bekommen. „Das Leiden dieser Frauen wurde nie staatlich anerkannt“, sagt Historikerin Buser.

„Mit Anfeindungen konfrontiert, beschimpft und ausgegrenzt“

Und auch in der Familie war das Thema schwierig, mit Folgen für die nächste Generation. „Meine Mutter hat sich geschämt, weil sie verurteilt worden ist, ein richtig offenes Gespräch darüber war kaum möglich“, erinnert sich Sämann. Bis heute wisse sie nicht, was mit ihrem Vater geschehen sei, weil ein Abschied fehle, könne sie nicht richtig abschließen: „Seine Spur endet im Bremer Gestapo-Gefängnis.“

Über Anatolij Michailowitsch Pokrowskij ist mehr bekannt. Er starb im Februar 1945 nach schwerer Krankheit im Lazarett des Kriegsgefangenenlagers Sandbostel – und wusste gar nicht, dass er Vater wurde. Sein Sohn Gerd kam im November zur Welt. Und dessen Mutter schwieg, was die Herkunft anging. „Das rassistische Denken war ja mit dem Kriegsende nicht vorbei“, verdeutlicht Historikerin Buser. „Die damaligen Kinder waren mit Anfeindungen konfrontiert, wurden beschimpft und ausgegrenzt, ebenso wie ihre Mütter und Väter.“

Diskriminierung, Scham und mangelndes Wissen über die eigene Herkunft führten dazu, dass nur wenige der Kinder später mit ihrer Geschichte an die Öffentlichkeit traten. „Der gesellschaftliche Druck war groß, meine Mutter hat das lange verdrängt, das war wie eingekapselt“, denkt Gerd A. Meyer zurück. Doch bei ihm wuchs der Wunsch, etwas über seine Wurzeln zu erfahren, genau zu wissen, wer sein Vater war – und wer er selbst ist.

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Über Jahre blieben seine Archivanfragen ohne Erfolg. 2009 schließlich fuhr er selbst in die Dokumentationsstelle der Stiftung Sächsische Gedenkstätten nach Dresden und entdeckte dort den entscheidenden Hinweis, wusste nun, wie sein Vater mit Nachnamen hieß. Bald darauf fand er die Familie von Anatolij, die in Semetschino lebt, einer kleinen Stadt, nicht weit von Moskau.

Zur Erinnerung an seinen Vater hat Gerd A. Meyer auf dem Lagerfriedhof des ehemaligen NS-Kriegsgefangenenlagers in Sandbostel ein Votivkreuz auf einem Massengrab aufgestellt, das schnell ins Auge fällt, weil viele Menschen dort Blumen ablegen. Eine Gedenktafel davor entreißt Anatolij Michailowitsch Pokrowskij der Anonymität: Geboren am 27. Oktober 1921, gestorben am 28. Februar 1945. Und für Gerd A. Meyer steht mit Blick auf die Familie seines Vaters und herzliche Begegnungen in Russland fest: „Ich bin nicht nur angekommen, ich wurde auch angenommen.“

„Wir sind auf der Suche nach Kontakten zu dieser Generation oder ihren Angehörigen, um ihren Erinnerungen eine Stimme zu geben“, sagt die Historikerin Buser. Wer sich melden will: Kontakte sind möglich über die Website www.trotzdemda.de und die Mailadresse info@trotzdemda.de.

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epd/mak

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